Mit Beginn der Liebhaberzucht von Ratten zwischen 1850 und 1900 haben sich Züchter wie Jack Black, Jimmy Shaw und später Mary Douglas darum bemüht, Tiere hervorzubringen, die als Haustiere gehalten werden konnten (Quelle: afrma). Während sich Jack Black zunächst vor allem auf neu erscheinende Farbvarianten wie Albinos oder Tiere mit Zeichnungen konzentrierte, dürfte auch bald der Bedarf nach Tieren geweckt worden sein, die zahmer und dem Menschen eher zugewandt sind als ihre wilden Artgenossen, die Wanderratten (Rattus Norvegicus). Damit trat ein Merkmal in den Vordergrund, dass alle domestizierten Tiere Teilen: die Zahmheit. Ein zahmes Tier toleriert die menschliche Gegenwart sowie die Handhabung durch den Menschen und hat keine Angst davor oder zeigt Aggressionen (Albert, F. W, et al. 2009).
Domestikation von Füchsen
Mit der Frage, ob eine gezielte Selektion und Zucht von zahmen Tieren aus wilden Populationen möglich ist, beschäftigte sich Dmitri K. Belyaev in einem bahnbrechenden Experiment, dass er am Institut für Cytologie und Genetik in Novosibirsk, Russland, über viele Jahrzehnte durchführte. Belyaev starte in den 50er Jahren und ließ seine Mitarbeiter über viele Generationen hinweg immer die zahmsten und zutraulichsten Tiere aus einer Population von undomestizierten Silberfüchsen, die er von Pelztierfarmen bezog, selektieren und verpaaren. Sein Ziel war es, die Mechanismen aufzudecken, die bei der Domestikation des Wolfes zum Hund eine wichtige Rolle gespielt haben. In seinem groß angelegten Experiment konnte er zeigen, dass es möglich war, durch gezielte Zuchtwahl innerhalb weniger Generationen erstaunliche Effekte in Richtung größerer Zahmheit zu erreichen. Die zahmen Füchse behielten kindliches Verhalten länger bei, spielten noch bis ins Erwachsenenalter hinein mit Objekten, reagierten von sich aus freundlicher auf den Menschen und zeigten eine früher eintretende und länger andauernde Läufigkeit. Darüber hinaus traten auch phänotypische Veränderungen auf: Es gab Füchse mit weißen Abzeichen und sogar Füchse mit Schlappohren und kürzeren, teilweise sogar geringelten Schwänzen, wie man sie bei einigen Hunderassen kennt. Am auffälligsten war tatsächlich das Bedürfnis nach dem Kontakt zum Menschen. Die zahmen Füchse begrüßten ihre Pfleger teilweise mit Schwanzwedeln, was noch nie vorher bei Füchsen dokumentiert worden war, leckten deren Hände und winselten, wenn die Pfleger sie wieder verließen. Sie ließen es zu gestreichelt und auf den Arm genommen zu werden. Sie rollten sich sogar auf den Rücken, um von ihren Pflegern am Bauch gekrault zu werden. Innerhalb von ungefähr 10 Generationen hatte man Füchse gezüchtet, die wie Hunde an der Leine liefen und sogar mit Namen abrufbar waren.
Um zu belegen, dass es sich hierbei nicht um einen Effekt handelte, der immer auftrat, wenn man Tiere in Gefangenschaft hielt, sondern um eine genetische Auswahl, gab es nicht nur eine Kontrollgruppe mit zufällig verpaarten Füchsen, sondern auch eine Gruppe von Füchsen, die auf besondere Aggressivität hin ausgewählt wurden.
Die unterschiedlichen Gruppen sind in den folgenden Videos eindrucksvoll wieder gegeben.
Mehr Informationen zu diesem bahnbrechenden Experiment ist in dem Buch "How to tame a fox" von Lee Alan Dugatkin zu lesen.
Zahmer Fuchs
Aggressiver Fuchs
Zähmung versus Domestikation
Bei diesen Betrachtung wird deutlich, dass man zwischen zwei Prozessen unterscheiden muss. Der erste ist die Zähmung. Wenn man ein wildes Tier zähmt, bringt man ihm durch Konditionierung erwünschte Verhaltensweisen wie z.B. das Schwanzwedeln bei. Unerwünschte Verhaltensweisen werden durch entsprechende Maßnahmen wie Bestrafung oder Löschung abgewöhnt. Das Resultat ist dann ein Tier, was sich unter Umständen dem Menschen gegenüber freundlich zeigt und sich gut handhaben lässt. Die Nachfahren dieses Tieres werden aber wieder genauso wenig zahm sein wie das Ausgangstier es zu Anfang war. Bei der Domestikation in Richtung Zahmheit dagegen wird durch gezielte Zuchtwahl eine Population von Tieren geschaffen, die von sich auf dem Menschen gegenüber freundlich sind und dessen Nähe suchen. Sie müssen nicht erst gezähmt oder trainiert werden
Domestikation von Ratten
1969 weitete Belyaev sein Experiment von Füchsen auf Ratten aus. Sein Mitarbeiter Pavel Bordin bekam für seine Abschlussarbeit die Aufgabe, zwei Rattenstämme aus einer Gruppe wild gefangener Wanderratten (Rattus Norvegicus) zu züchten. Er sollte eine Linie heranziehen, die zahm und dem Menschen gegenüber sehr freundlich sein sollte, und eine zweite Linie, die besonders aggressiv war. Man erhoffte sich, durch dieses Experiment weitere Hinweise auf die physiologischen Unterschiede zwischen dometizierten und undomestizierten Tieren zu erhalten. Anfangs zeigten sich schnelle Veränderungen in Bezug auf die angeborene Zahmheit der Ratten. Nach 10-15 Generationen war dann ein Level erreicht, in dem die Ratten keine Angst mehr vor Menschen hatten und tolerierten, angefasst und hochgehoben zu werden. Weitere Veränderungen waren nur noch marginal. Die Gruppe aggressiver Ratten dagegen griff an oder floh. In einer Studie von 2009 konnten Albert et al. zeigen, dass Zahmheit bei Ratten tatsächlich eine genetische Komponente hat. Zahmheit wird hauptsächlich durch zwei Genorte bestimmt (tame1 und tame2), die Teil eines epistatischen Netzwerkes von 5 Genorten sind. Als ein physiologisches Korrelat für Zahmheit wurde die Größe der Nebenniere diskutiert. Der Genort für Zahmheit und der Genort für die Größe der Nebennieren zeigen gewisse Überlappungen, die Effekte des Genortes (Qualitative Trait Locus) beeinflussen den Phänotyp in der erwarteten Richtung (d.h. verursachen höhere Zahmheit und kleiner Nebennieren). Das deckt sich mit der Beobachtung, dass domestizierte Farbratten kleiner Nebennieren aufweisen als wilde Wanderratten. Interessant ist auch, dass bei domestizierten Farbratten die Fruchtbarkeit früher einsetzt und der Zeitraum der Fruchtbarkeit größer ist als bei wilden Wanderratten (Schleif 2013) - ein Ergebnis, das sich mit den Ergebnissen von Belyaev deckt. 2013 präsentierte Lenore Pipes die Ergebnisse genetischer Untersuchungen, die sie und ihre Kollegen an den Füchsen vorgenommen hatten, die Balyaev in seinem Experiment hervorgebracht hat. Da bisher keine DNA-Unterschiede gefunden wurden, die die Unterschiede im Verhalten zahmer und aggressiver Füchse erklären könnten, konzentrierte Pipes sich auf Unterschiede in der Genaktivität und wurde im Bereich des präfrontalen Kortex und der Amygdala tatsächlich fündig. So zeigten die aggressiven Tiere eine erhöhte Sensitivität der Dopaminrezeptoren.
The strongest of these (termed “Tame-1”) is located at 58 cM on chromosome 1. The difference in tameness between homozygous genotypes at Tame-1 corresponds to ∼20% of the difference between the tame and the aggressive line (1.2 of 6.4 units of PC1). Tame-1 explains 5.1% of the phenotypic variance in tameness. The second locus (“Tame-2”) is located at 78 cM on chromosome 8. Both the tameness difference between homozygous genotypes (∼10% of the line difference) and the portion of residual phenotypic variance in tameness it explains (2.3%, are about half of those of Tame-1.
Fazit
Die dargestellten Untersuchungen und ihre Ergebnisse belegen eindrucksvoll, dass Zahmheit eine genetische Basis hat und durch gezielte Zuchtwahl verbessert werden kann. Diese Erkenntnis sollte unbedingt bei der Auswahl von Zuchttieren berücksichtigt werden. Das Ziel sollte sein, Tiere zu züchten, die bereits aufgrund ihrer Veranlagung dem Menschen gegenüber freundlich und aufgeschlossen sind. Anders als Tiere mit einer Veranlagung zu Angstreaktion und Aggressivität, die in menschlicher Obhut permanent einer Stressreaktion ausgesetzt sind, können solche Tiere mit einer genetisch verankerten Zahmheit die Gegenwart von Menschen genießen. Ziel sollte es sein Tiere zu züchten, bei denen eine Zähmung im Sinne eines Antrainierens zahmer Verhaltensweisen nicht mehr nötig ist, sondern die von sich aus auch ohne intensive Beschäftigung mit dem Menschen diesem zugewandt sind.
Literatur
Albert, F. W. et al. (2009). Genetic Architecture of Tameness in a Rat Model of Animal Domestication.
Dugatkin, L. A. (2017). How to tame a fox. Chicago: University of Chicago
Pipes, L., et al. (2013). Changes in RNA-seq profiles of silver foxes (Vulpes vulpes) after 50 generations of selection on tame/aggressive behaviors. Presentation at Biology of Genomes meeting at Cold Spring Harbor Laboratory, May 10, 2013.