Rattenmutter - Alter bei der Geburt. Wann sollte eine Ratte gedeckt werden?

Einfluss des Rattenmutteralters - in welchem Alter decken?

Das Problem des verknöchernden Beckens

In Deutschland wird meist die Ansicht vertreten, dass eine Ratte frühestens im Alter von 4 Monaten, beim ersten Mal spätestens im Alter von 8 Monaten und insgesamt spätestens im Alter von 11 Monaten (so dass sie mit 12 Monaten den letzten Wurf hat) gedeckt werden sollte.
Als Grund dafür, dass Ratten keinesfalls älter als 12 Monate sein sollten beim letzten Wurf, wird meist eine beginnende Verknöcherung (Ossifikation) des Beckens, genauer gesagt eine Ossifikation der knorpelhaften Verbindung (Symphyse) an der Schambeinfuge angegeben. Dies soll dazu führen, dass sich bei älteren Ratten das Becken während der Geburt nicht mehr genügend weiten kann, so dass tödliche Komplikationen die Folge sein können. Leider konnte mir bisher niemand, der diese Information geteilt hat, sagen, woher diese stammt und was für eine wissenschaftliche Quelle es dafür gibt. Meist berief man sich auf „Erfahrungswerte“.

Für mich Anlass genug, mich einmal intensiv mit dem Thema auseinander zu setzen und genau zu recherchieren. Dabei bin ich tatsächlich auf eine Studie gestoßen, die sich explizit mit der Entwicklung des Beckens der Ratte, genauer mit der Schambeinfuge, auseinandersetzt (Ruth 1935((Ruth, A.B. (1935), Metamorphosis of the pubic symphysis: I. The white rat (Mus norvegicus albinus), The Anatomical Record Vol. 64, No. 1, Supplement No.1))).

Die Schambeinfuge (Symphysis pubica) ist die Stelle, an der die rechte und linke Beckenhälfte, genauer die Schambeine beider Seiten, vorne verbunden sind (Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Schambeinfuge). Während der Trächtigkeit und Geburt weitet sich die Schambeinfuge ab dem 17. Trächtigkeitstag (Suckow et al. 2005((Mark A. Suckow, Steven H. Weisbroth, Craig L. FranklinThe Laboratory Rat))), was vermutlich durch das Hormon Relaxin ausgelöst und durch Östrogen beeinflusst wird (Samuel et al. 1996((C S Samuel A Butkus J P Coghlan J F Bateman (1996, The effect of relaxin on collagen metabolism in the nonpregnant rat pubic symphysis: the influence of estrogen and progesterone in regulating relaxin activity, Endocrinology, Volume 137, Issue 9, 1 September 1996, Pages 3884–3890))).

Kommt es bei der Ratte ab dem 12. Monat zu einer Verknöcherung des Beckens?

Um die Funktion des Knorpelgewebe der Schambeinfuge bei der Ratte im Vergleich zu anderen Säugetieren zu verstehen, muss man wissen, dass es drei verschiedene Arten von Schambeinfugen bei verschiedenen Säugetieren gibt (nach Hall 2005((Hall, B. K. (2005). Bones and Cartilage: Developmental and Evolutionary Skeletal Biology))):

  • Synostosis: knöcherne Verbindung zwischen zwei Knochen (einige Nagetiere)
  • Synchondrosis: eine knorpelhafte Verbindung zwischen zwei Knochen (einige Nagetiere, Primaten, Karnivoren und Paarhufer)
  • Syndesmose: Verbindung zweier Knochen durch Bindegewebe (einige Nagetiere und Fledermäuse)

Bei der Schambeinfuge der Ratte liegt eine echte Synchondrosis, also eine knorpelhafte Verbindung vor (Ortega et al. 2003((Ortega H, H, Muñoz-de-Toro M, M, Luque E, H, Montes G, S, Morphological Characteristics of the Interpubic Joint (Symphysis pubica) of Rats, Guinea Pigs and Mice in Different Physiological Situations. Cells Tissues Organs 2003;173:105-114))9. Diese bleibt laut Ruth (1935((Ruth, A.B. (1935), Metamorphosis of the pubic symphysis: I. The white rat (Mus norvegicus albinus), The Anatomical Record Vol. 64, No. 1, Supplement No.1))) bei der Ratte das ganze Leben hindurch bestehen. Eine fortgeschrittene Verkalkung tritt erst im hohen Alter auf und es gibt keine Hinweise für eine vollständige Ossifikation der Symphyse bei alten Ratten, auch wenn Todd (1921((TODD, T. W. 1921 Age changes in the pubic bone. IV. Assembled results of the investigation. Am. J. Phys. Anthrop., 4, p. 49. 1921 Age changes in the pubic bone. V. Mammalian pubis meta- morphosis. Am. J. Phys. Anthrop., vol. 4, p. 333.))) diese für einige Nagetiere beschrieben hat. Ruth (1935((Ruth, A.B. (1935), Metamorphosis of the pubic symphysis: I. The white rat (Mus norvegicus albinus), The Anatomical Record Vol. 64, No. 1, Supplement No.1))) unterscheidet drei Stadien der Entwicklung des Gewebes der Schambeinfuge:

  1. Bis zum 2. Monat: Schnelle Ossifikation der Schambeine bis hin zur Schambeinfuge, Knorpelzellen gruppieren sich in Nestern, die meisten Charakteristiken des fötalen Knorpelgewebes verschwinden bis zur 5. Woche, in der 8. Woche hat das hyaline Knorpelband in der Schambeinfuge hat eine Breite von 1,5 – 2 mm, medial keine Auswirkungen eines Ossifikations-Prozesses, lateral kommt es zu einer Vergrößerung der Zellen, die typisch ist für eine beginnende Ossifikation. Es bilden sich Knochen-Trabaeculae (mikroskoische Knochenstäbchen).
  2. Von der sexuellen Reife bis ins hohe Alter: relativ wenig Veränderungen, die Symphyse ähnelt einer epiphysealen Synchondrosis, kaum Veränderungen im Alter von 6/12/18 Monaten außer einer leichten Verengung der Schambeinfuge
  3. Im hohen Alter (in der vorliegenden Studie im Alter von 30 Monaten): degenerative Veränderungen am Knorpelgewebe der Schambeinfuge, Verringerung der Zellanzahl im hyalinen Knorpelgewebe, unregelmäßigere Zwischenraume (Lacunae), charakteristische faserige Kollagenisierung (Fibrose Metaplasie). Die Knorpelzellen und die hyaline Zwischenraumflüssigkeit (interstitielle Flüssigkeit) verschwinden nach und nach und eine Verkalkung der faserigen Substanz findet statt. Es wurde allerdings nicht beobachtet, dass es zu einer Verknöcherung (Ankylose) der Schambeine an der Symphyse kommt.

Woher stammt dann die Angabe, dass sich bei Ratten die Schambeinfuge im Alter von 12 Monaten schließt?

Natürlich kann ich nicht mit Sicherheit sagen, woher diese Fehlinformation stammt, allerdings liegt die Vermutung nahe, dass es auf einer unzulässigen Verallgemeinerung der Forschungsergebnisse bei Meerschweinchen auf die Ratte beruht.

Bei Meerschweinchen schließt sich die Schambeinfuge von weiblichen Tieren im Alter von sechs Monaten, wenn sie bis dahin nicht verpaart wurden (Smallwood 1992((Smallwood JE (1992) A guided tour of veterinary anatomy. WB Saunders Company. Philadelphia, London, Toronto, Montreal, Sydney, Tokyo, pp 350–358.))). Dies kann zu starken Komplikationen bei der Geburt führen bei Meerschweinchenweibchen, die im Alter von mehr als 7 Monaten zum ersten Mal werfen ((Woerpel & Rosskopf 1988 zitiert nach http://www.ratbehavior.org/PubicSymphysis.htm)). Bei Meerschweinchen öffnet sich die Schambeinfuge während der Geburt um bis 23 mm (Todd 1921((Todd, T. W (1921), The Pubic Symphysis oft he Guienea-Pig in Relation to Pregnancy and Partruition))). Dies ist notwendig, da Meerschweinchen sehr weit entwickelt Jungtiere zur Welt bringen. Die Neonaten (Neugeborene) von Ratten sind im Vergleich hierzu deutlich weniger weit entwickelt. Daher ist eine Öffnung der Schambeinfuge bei Ratten nicht notwendig. Todd (1921((Todd, T. W (1921), The Pubic Symphysis oft he Guienea-Pig in Relation to Pregnancy and Partruition))) stellte fest, dass bei Ratten die Öffnung der Schambeinfuge nach der Geburt gleich der Öffnung vor der Geburt ist. Die von Suckow (siehe oben ((((Mark A. Suckow, Steven H. Weisbroth, Craig L. FranklinThe Laboratory Rat))) beschrieben Weitung ab dem 17. Trächtigkeitstag kann also nicht annährend mit der Weitung vergleichbar sein, die bei Meerschweinchen stattfinde. Ebenso stellt Todd fest, dass es keine Belege dafür gibt, dass es bei Ratten zu einer Fusion der Symphyse kommt wie bei Meerschweinchen.

Zusatzinformation: Entwicklung der Fruchtbarkeit der Ratte
Ab 23. Woche (ca. 5 Monate): Östrus-Zyklus wird unregelmäßiger (1)

ab 24. Woche (ca. 5,5 Monate): Wurfgröße bei mehrfach tragenden Ratten sinkt, Abnahme der Anzahl lebender Junge, gleichzeitig Anstieg des Anteils toter Junge

ab 27.-35. Woche (ca. 6 – 8 Monate): Kopulations- und Fruchtbarkeits-Indizes sinken(1)

Ab 27. Woche (ca. 6 Monate): Einnistungsplätze nehmen ab (1)

Ab 27. Woche (ca. 6 Monate): Anzahl lebender Föten sinkt (1)

Ab 31. Woche (ca. 7 Monate): Wachstum der Föten verringert (1)

Ab 35. – 40. Woche (ca. 8 – 9 Monate): Anzahl der Nabelbrüche bei den Welpen nimmt zu (1)

Ab 36. Woche (ca. 8 Monate): Resorptionsrate steigt (3)

Ab 38. Woche (in der 1. Schwangerschaft – ca. 8,7 Monate): Fruchtbarkeit um 46% verringert, Wurfgröße um 36% verringert, Wachstum der Föten eingeschränkt, erhöhter systolische Blutdruck bei der Mutter (2)

52 Wochen (ca. 12 Monate): Schwangerschaftsrate sinkt signifikant (3)

ab 65. - 87 Woche (15 - 20 Monate): Beginn der reproduktiven Seneszenz

Quellen:
(1) Ishii M1, Yamauchi T, Matsumoto K, Watanabe G, Taya K, Chatani F. (2012), Maternal age and reproductive function in female Sprague-Dawley rats.J Toxicol Sci. 2012;37(3):631-8.
(2) Care AS, Bourque SL, Morton JS, Hjartarson EP, Davidge ST. (2015), Effect of advanced maternal age on pregnancy outcomes and vascular function in the rat. Hypertension. 2015 Jun;65(6):1324-30. doi: 10.1161/HYPERTENSIONAHA.115.05167. Epub 2015 Apr 27.
(3) Adolf Niggeschulze , Alexander Kast (1994), Maternal age, reproduction and chromosomal aberrations in Wistar derived rats, Laboratory Animals, Vol 28, Issue 1, 1994

Fazit

Bei der Ratte liegt in der Schambeinfuge eine knorpelhafte Verbindung vor, die ein Leben lang erhalten bleibt. Bis zum Alter von 18 Monaten finden sich kaum Veränderungen gegenüber dem Zustand bei Erreichen der sexuellen Reife. Verkalkungen entstehen erst im hohen Alter. Darin unterscheiden sich Ratten von weiblichen Meerschweinchen, bei denen ab dem 6. Monate eine deutliche Verknöcherung der Schambeinfuge vorliegt, wenn sie bis dahin noch nicht geworfen haben. Aufgrund der geringen Reife der Neonaten der Ratte ist eine mit dem Meerschweinchen vergleichbare Weitung der Schambeinfuge wahrscheinlich nicht notwendig. Allerdings ist zu beachten, dass das Risiko in einer Schwangerschaft z.B. dadurch steigt, dass mehr Föten resorbiert werden und es zu mehr Totgeburten kommen kann. 

ACHTUNG - WARNUNG
Auf gar keinen Fall soll mit den Angaben in diesem Artikel der Anschein erweckt werden, dass es ein Alter gibt, in dem man weibliche Ratten ohne das Risiko einer ungewollten Trächtigkeit mit Männchen zusammen halten kann. Der Zeitpunkt der reproduktiven Seneszenz ist bei Ratten sehr variabel.